„Am 10.11.89, in Havanna, ich konnte es nicht fassen...” - Jorge
Politische Verfolgungen und Flucht als Grenzerfahrung

Mugshots von Jorge, Quelle: Zeitzeugeninterview, Jorge, 07.01.2025.
Vorstellung Zeitzeuge
Jorge wurde 1959 in Havanna/Kuba geboren. Als kubanischer Dolmetscher für die Vertragsarbeiter kam er 1982 erstmalig in die DDR. Nach einer Weile wollte der kubanische Geheimdienst ihn als Spitzel anwerben. Dies lehnte er ab. Auf Grund eines abgehörten Telefonats mit der US-Botschaft in Ost-Berlin, dessen Gesprächsstoff die Fluchtmöglichkeiten aus dem Sozialistischen Land beinhaltete, wurde er im März 1987 verhaftet und nach Kuba ausgeflogen. Dort angekommen erhielt er ein Berufs- und Ausreiseverbot und wurde kurzweilig inhaftiert. Im Jahre 1992 durfte Jorge Kuba verlassen. Derzeit lebt er in Berlin und unterstützt die Arbeitsgruppe „Demokratie für Kuba-Berlin". ¹ ²
Zusammenfassung des Interviews
Jorge fühlte sich eingesperrt, seiner Auffassung nach war die deutsch-deutsche Grenze ein Symbol für Unterdrückung und Abschottung. Seine Zeit in der DDR wurde durch politische Verfolgung und Überwachung sowie Inhaftierung geprägt.¹
In der Untersuchungshaft
Während der Inhaftierung führten Isolation und Desorientierung zu einem Gefühl völliger Ohnmacht. Dies wurde ausgelöst durch absolute Abschottung von der Außenwelt wie zum Beispiel das Verwehren von Informationen über die Uhrzeit/Tageszeit oder das Geschehen außerhalb seiner Zelle. Dies förderte das Gefühl von Einsamkeit und entwickelte sich letztlich zu einer allumfassenden Isolation. ¹
Nach der Freilassung
Nach der Freilassung verspürte Jorge ein großes Misstrauen gegenüber allen Menschen. Dieses Misstrauen erschwerte jegliche Art von Beziehungen. Der Kontakt zu seiner Familie gestaltete sich schwer, vor allem mit seinem Sohn. Bis heute beschäftigen ihn die Erfahrungen dieser Zeit, denn noch immer hat er mit seinem Traumata zu kämpfen. Es wird mit der Zeit besser, aber einige Wunden sitzen tief. ³
Grenze als psychisches Konstrukt
In der DDR manifestierte sich der Begriff „Grenze" nicht nur physisch. Überwachungen, Einschränkungen und politische Gewalt waren kein Geheimnis und allgegenwärtig.
Die Meinungsfreiheit wurde stark begrenzt und auch die Entscheidung über die eigene politische Entwicklung blieb unter der SED nicht bei einem selbst. ⁴ Warum jemand politisch verfolgt wurde, hatte die verschiedensten Gründe. Sei es jegliche Form der Kritik am Regime der SED, oppositionelle Aktivitäten oder der bloße Verdacht von entfernten Kontakten, dass man potentiell „gefährlich" sei. ⁵
Der Repressionsapparat der Staatssicherheit hatte eine zentrale Rolle und manifestierte sich in flächendeckender Überwachung durch ein dichtes Netz an inoffiziellen Mitarbeitern. Damit löste der Staat sehr bewusst ein ständiges Gefühl von Unsicherheit und Angst aus, das systemtreue bewirken sollte. Die Menschen befanden sich zwischen dem Wunsch nach Freiheit und der Angst vor Konsequenzen. Mit jemandem offen reden, war zu der Zeit auch kaum möglich, denn man konnte nicht wissen, wer eventuell Informationen über einen herausfinden sollte. Damit entstanden riesige mentale Grenzen in zwischenmenschlichen Beziehungen. ⁵
War es dann dazu gekommen, dass man in Haft musste, war man harten Haftbedingungen ausgesetzt. Demütigungen, psychische und teils auch körperliche Folter bis hin zu seltenen Hinrichtungen, falsche Nachrichten, die einen unter Druck setzen sollten und das Gefühl von Wertlosigkeit, sollten einen zum Gestehen bringen.⁶ ⁷ ⁸
Die Mauer war nicht nur eine materielle Grenze, sondern stand auch für die Trennung von Ideologien, Familien und Freunden und Lebensweisen. Mit ihr kamen viele alltägliche Grenzen. Vor allem im Osten musste man auf viele Konsumgüter verzichten, hatte Schwierigkeiten an bestimmte Objekte, wie Autos zu kommen und musste sich mit sehr viel Zensur arrangieren. ⁹
Das Grenzregime ging einher mit Verletzungen und Toten, denn die Flucht über die Grenze, war nicht nur verboten, sondern es wurde dieses Verbot auch mit nahezu allen Mitteln durchgesetzt. Die Grenze nahm einem die persönliche Freiheit und selbst wenn man erfolgreich flüchten konnte, ließ man eine Menge zurück. Damit verschwanden zwar einige Grenzen, es entstanden aber auch eine Menge neuer. ¹⁰
Fazit
Bei Jorge kann man auch heute noch die Auswirkungen dieser Zeit in seinen Erzählungen bemerken. Die Geschehnisse beschäftigen ihn seither. Er erzählt uns, dass noch heute die Mauer in den Köpfen der Menschen verankert sei und sie sich sobald auch nicht auflösen wird. Er hat das tiefe Bedürfnis über diese Zeit zu berichten und Menschen die Relevanz von Freiheit und Aufarbeitung nahezulegen. Für ihn seien es weniger frische Wunden, als Narben, die ihn sein Leben lang begleiten werden. Auch fällt ihm auf, dass viele Personen, denen er in seiner Arbeit begegnet, die Zeit relativieren oder sogar verharmlosen. Er möchte Bewusstsein schaffen und neben den schönen Seiten der DDR eben auch die weniger schönen zeigen? ⁷
Außerdem kann er weiterhin nicht vollständig mit dem Thema abschließen. Er wurde auf Kuba geboren und dort herrschen auch heute noch schwierige Gegebenheiten. ¹¹ Für ihn ist dieses Thema und auch seine Haft auf Kuba immer noch eine Erinnerung dafür, dass Grenzen überall existieren. Er darf seit über 30 Jahren nicht mehr in seine Heimat und das nur, weil er sich dazu entschieden hat, Menschen in ähnlichen Situationen zu helfen. Es gibt, Menschen, die noch genau das erfahren, wovon ehemalige DDR- Bürger berichten und was sie so sehr traumatisierte. Die Geschichte ist unumkehrbar, aber es ist unsere Verantwortung aus ihr zu lernen, zu wachsen und es letztendlich besser zu machen. ¹¹
¹ Quelle: Zeitzeugeninterview, Jorge, 07.01.2025
² Quelle: Steckel, Jessica und Lotsch, Michael: „Zeitzeuge" URL: https://www.ddr-zeitzeuge.de/ddr-zeitzeugen-recherchieren/ddr-zeitzeuge/jorge-luis-garcia-vazquez-97.html Abrufdatum: 05.02.2025.
³ Quelle: Zeitzeugeninterview, Jorge, 07.01.2025.
⁴ Quelle: Schubert, Klaus/Martina Klein: Das Politiklexikon. 7., aktual. u. erw. Aufl. Bonn: Dietz 2020. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung URL: https://www.bpb.de/kurzknapp/lexika/politiklexikon/17333/deutsche-demokratische-republik-ddr/ (Abrufdatum: 12. Februar 2025).
⁵ Quelle: Präsident des Bundesarchivs, Prof. Dr. Michael Hollmann: Bundesarchiv: Was war die Stasi? URL: https://www.bundesarchiv.de/themen-entdecken/online-entdecken/staatssicherheit/was-war-die-stasi/ (Abrufdatum: 12.Februar 2025).
⁶ Quelle: Zeitzeugeninterview, Jorge, 07.01.2025.
⁷ Quelle: Steffen Alisch, Bundeszentrale für politische Bildung: Zwischen Kontrolle und Willkür: Der Strafvollzug in der DDR. URL: https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/227634/zwischen-kontrolle-und-willkuer-der-strafvollzug-in-der-ddr_(Abrufdatum: 12. Februar 2025).
⁸ Quelle: Gerd Schneider / Christiane Toyka-Seid, Bundeszentrale für politische Bildung: Stasi - Staatssicherheit der DDR. URL: https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/das-junge-politik-lexikon/321190/stasi-staatssicherheit-der-ddr/(Abrufdatum: 12. Februar 2025).
⁹ Quelle: Zeitzeugeninterview, Jorge, 07.01.2025 ¹⁰ Quelle: Kirsten Mieves, Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen (BStU): Innerdeutsche Grenze und Berliner Mauer. URL: https://www.stasi-mediathek.de/sammlung/innerdeutsche-grenze-und-berliner-mauer/(Abrufdatum: 12. Februar 2025).
¹¹ Quelle: Steffen Alisch, Bundeszentrale für politische Bildung): Zwischen Kontrolle und Willkür: Der Strafvollzug in der DDR. URL: https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/227634/zwischen-kontrolle-und-willkuer-der-strafvollzug-in-der-ddr/(Abrufdatum: 12. Februar 2025).

Beobachtunsbericht von Jorge Teil 1, Quelle: Zeitzeugeninterview, Jorge, 07.01.2025.

Beobachtunsbericht von Jorge Teil 2, Quelle: Zeitzeugeninterview, Jorge, 07.01.2025.
Transkript
Vollständiges Interview von Jorge
Wie hast Du die Grenze erlebt und was war Dein Anlass zum Fluchtversuch?
„Irgendwann fühlte ich mich eingesperrt. Am Anfang achtete ich nicht darauf, ich denke, man ist mit anderen Sachen beschäftigt, ich wollte zuerst Land und Leute kennenlernen. Ich komme aus Kuba, eine Insel und leider heute noch eine brutale Diktatur, unsere Grenze ist das Meer. In der DDR und insbesondere in Ostberlin war die Grausamkeit der Grenze (Mauer und Stacheldraht) zu sehen oder zu spüren."
Er wollte sich nicht mehr anpassen müssen.
Wie hast Du das Leben und die Politik in der DDR wahrgenommen?
„Ich habe in der DDR, sowie in Kuba, auch, trotz Repression, Bevormundung und Zensur schöne Momente erlebt und wunderbare Menschen kennengelernt, aber ich vermisse die DDR nicht. Ich denke, die meisten DDR- Bürger waren von der Politik sehr enttäuscht und wussten, dass das System am Ende war."
Die Gesellschaft versuchte miteinander klarzukommen, sie sind aufeinander angewiesen, man hat sich geholfen. Die Politi der SED hat vieles nicht geduldet, man musste politisch korrekt sein. Das Auge der Stasi war immer da und man konnte nichts dagegen unternehmen.
Wie war der Umgang in den Gefängnissen und wie machten sich Grenzen dort bemerkbar?
„In den Untersuchungsgefängnissen der Staatssicherheit waren die Gefangenen oft lange isoliert. Sie durften ihre Zellen nur verlassen wenn sie zum Verhör abgeholt wurden oder zum Freigang ( 1 X Tag, 15- 20 Minuten in einem Käfig ,ca. 4x10 Meter groß). ¹⁵
Der Gefangene wurde von den Wächtern mit einer Nummer angesprochen (Zellennummer)."
Nur der Vernehmer, Untersuchungsführer genannt, kannte seine Identität. Desorientierung und Ungewissheit sind die Folgen, man sollte zerbrechen, moralisch kapitulieren..... Er hatte absolute Macht. Auch deine Zellengenossen konnten bei dir in der Zelle sein um dich zu bespitzeln, folglich wurde auch in den Zellen kaum miteinander gesprochen. Es wurde weiße Folter angewandt, man konnte nicht raussehen, man wusste nicht wo man ist, oder wie spät es ist. Es war mehr als nur eingesperrt sein.
Inwieweit begrenzte deine Situation in der DDR und auf Kuba Deinen Kontakt zu Familie und Freunden?
„Nach der „Freilassung" entstehen Misstrauen und Schuldgefühle. Wer ist wer? Politische Haft begrenzt das Leben, Beziehungen, Freundschaften.."
Man wird ausgegrenzt und er hatte das Gefühl, dass wann immer er was erzählt, es falsch sein, oder falsch interpretiert werden könnte und daraus Konsequenzen entstehen. Man wurde in seiner Kommunikation begrenzt. Über drei Jahre machte sich die Einschränkung in der persönlichen Entwicklung besonders bemerkbar. Man wusste nie was die eigenen Freunde wirklich machen, man wusste nie wem man trauen konnte.
Als er in der DDR arbeitete, verblieb seine Familie auf Kuba. In der DDR bekam er mit seiner damaligen Freundin ein Kind, doch nach seiner Verhaftung und Rückkehr nach Kuba war es schwer den Kontakt zu halten. Der kubanische Geheimdienst beschlagnahmt Briefe, hörte Telefonate ab und wollte generell den Kontakt beschränken. Es entstanden Grenzen zwischen Familie und Freunden. Man verlässt mehr als nur ein Land. ¹⁶
Wie hast Du die Grenzöffnung erlebt?
„Am 10.11.89, in Havanna, ich konnte es nicht fassen."
Er erzählte, dass er die Nachricht von deutschen Touristen erhielt. Auf Kuba gab es zu der Zeit kaum Möglichkeiten an Informationen zu gelangen. Er hat eine Weile gebraucht um es zu realisieren, denn er sah Parallelen zwischen Kuba und der DDR. Denn auf Kuba herrschte immer noch die Diktatur und dort war das Meer die Grenze.
Welche Rolle spielt das Ganze noch heute für Dich und welche Einflüsse hat es noch auf Dein Leben?
„Es hat Spuren hinterlassen, nicht nur die Inhaftierung, sie war sehr kurz, sondern alles was danach dazu kommt; Berufsverbot ,Polizeikontrollen ...Die Zeit heilt die Wunden aber die Narben bleiben und ich versuche die psychischen Narben die Diktaturen, Gewalt und Unrecht verursachen und hinterlassen sichtbar zu machen. Ich denke, das ist meine Aufgabe. Die Geschichte ist da um aus ihr zu lernen und es gibt eine zentrale Frage bei der Aufarbeitung von Diktaturen und sie beschäftigt mich heute noch: Wer waren die Täter, ja das ist wichtig aber.... warum?"
Er hilft politisch Gefangenen, um Grenzen zu minimieren. Er fühlt sich hier in Deutschland zu Hause und gleichzeitig nicht zu Hause. Er darf seit über 30 Jahren nicht mehr nach Kuba, da er sich für das Land einsetzt, also auch in diesem Bereich erfährt er Grenzen. Die Relativierung und Verharmlosung der damaligen Situation, die er bei einigen Menschen auch heute noch mitbekommt, lässt ihn Distanz spüren. Er sagt, dass auch heute noch viel zu wenig aufgearbeitet wird. ¹⁷
¹⁷ Vollständiges Zeitzeugeninterview, Quelle: Zeitzeugeninterview, Jorge, 07.01.2025
¹⁶ Vollstandiges Zeitzeugeninterview, Quelle: Zeitzeugeninterview, Jorge, 07.01.2025
¹⁵ Vollständiges Zeitzeugeninterview, Quelle: Zeitzeugeninterview, Jorge, 07.01.2025